Die Schwächen des Body-Mass-Index
Übergewicht erhöht das Risiko für viele chronische Erkrankungen.
Dennoch kommen manche Studien zu dem Ergebnis,
dass Übergewichtige länger leben.
Schuld daran könnte unter anderem der BMI sein.
Kurz auf die Waage gestellt, einmal potenziert und einmal dividiert – schon weiß jeder, ob er zu viel oder zu wenig wiegt. Die Gesundheitsprognose gibt es gleich mit dazu, für alle Abstufungen von Untergewicht bis hin zur schweren Adipositas. Schon praktisch, dieser Body-Mass-Index (BMI).
Doch die zweckmäßigste Methode ist nicht immer auch die zuverlässigste. Das wird spätestens dann klar, wenn wieder einmal eine Studie all dem widerspricht, was wir über Gesundheit und Gewicht zu glauben scheinen. Ein höherer BMI verlängere die Lebenserwartung, statt sie zu verkürzen, heißt es dann.
Ein komplexes Thema wie die Gesundheitsprognose ist aber nicht mit einer einfachen Rechnung zu lösen. "Für die Forschung ist der BMI viel zu ungenau", sagt Manfred Müller vom Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, "auch wenn er zeitweise in Studien genutzt wird, sollten besser andere Messinstrumente herangezogen werden, mit denen verlässlichere Aussagen über den Körperfettanteil und die Fettverteilung getroffen werden können." Versuchen Wissenschaftler dennoch, eine Prognose nach BMI aufzustellen, dann gibt es häufig Überraschungen.
Widersprüchliche Ergebnisse
Überraschend ist zum Beispiel, dass ähnliche Studien zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können. Das Team um Walter Willett von der Harvard School of Public Health im US-amerikanischen Boston fand beispielsweise weitere Beweise für das, was wir längst zu wissen meinen: Mit einem BMI zwischen 20 und 25 – das heißt Normalgewicht – lebe man am längsten. Dafür haben die Ernährungswissenschaftler die Gesundheitsdaten von 1,46 Millionen Menschen ausgewertet.
Sogar noch mehr Daten wurden in eine andere Studie eingespeist: Das Team um Katherine Flegal, Epidemiologin am National Center for Health Statistics im US-amerikanischen Hyattsville, hat 2,88 Millionen Menschen in ihre Metaanalyse aufgenommen.
Dabei kamen die Wissenschaftler jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis. Hier hatten die Übergewichtigen eine längere Lebenserwartung als die Normalgewichtigen: Mit BMI 25 bis 30 lebe man länger als mit einem BMI unter 25. Und selbst jemand mit einer Adipositas Grad 1 (BMI 30 bis 35) hätte keine schlechtere Lebenserwartung als ein Normalgewichtiger, wie es im Journal of the American Medical Association (Jama) heißt.
Folgen des Übergewichts
Ab BMI 35 war allerdings Schluss mit Überraschungen. Studienteilnehmer, die diesen Wert überschritten haben, hätten wieder ein deutlich höheres Sterberisiko als Normal- und leicht Übergewichtige. Zumindest hier haben sich Flegal's Ergebnisse also nicht denen von anderen Studien widersprochen.
Erstaunlich bleibt jedoch, dass leichtes Übergewicht nicht schädlich und eingeschränkt sogar förderlich sein solle – passt dies doch so gar nicht zu dem, was man tagtäglich in Krankenhaus und Allgemeinarztpraxis beobachten kann.
Dort leiden schwergewichtige Patienten in der Regel sehr unter den zusätzlichen Kilos. Denn die schaden ihrem Körper – und das wiederum verkürzt die Lebenszeit. "Übergewicht schädigt die Gelenke, erhöht den Blutzuckerspiegel und die Blutfettwerte, steigert das Risiko für viele Krebserkrankungen und verschlechtert die Herz-Kreislauf-Funktion", sagt Martin Wabitsch, Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) und Leiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum in Ulm.
Gesundheitsrisiko statt Lifestyleproblem
Adipositas sei deshalb ein eindeutiges Gesundheitsrisiko. "In anderen Ländern, beispielsweise Großbritannien und Schweden, hat man längst erkannt, dass es sich bei der Adipositas um eine Erkrankung handelt, die gefährliche und kostenintensive Folgen haben kann", so Wabitsch. In Deutschland gelte Übergewicht dagegen immer noch als ein Lifestyle-Problem.
Natürlich befeuern gerade Kontroversen wie die aus Boston und Hyattsville diese Annahme. Wenn nicht einmal wissenschaftliche Studien zu einem eindeutigen Ergebnis kämen, dann könne man doch sicher auch um das Risiko von Übergewicht streiten – und künftig einfach weiterschlemmen.
Zahlreiche Einflussfaktoren
Nun geht es in der Wissenschaft aber nicht nur darum, Hypothesen zu bestätigen oder wieder zu verwerfen, sondern auch Methoden zu hinterfragen. Andere, bislang unbeachtete Einflussfaktoren können nämlich ebenso an den Ergebnissen drehen. Und gerade beim Gewicht gibt es viele weitere Faktoren, die es zu beachten gibt.
Einer davon ist beispielsweise das Rauchen. Wer raucht ist oft schlanker – reduziert durch das Qualmen aber gleichzeitig seine Lebenszeit. Ebenso können chronische Erkrankungen dazu führen, dass man weniger Kilos auf die Waage bringt. Durch die Grunderkrankung kann dann jedoch die Lebenserwartung sinken.
Die Geschichte des BMIs
Und dann gibt es da noch den BMI. Der Wert, der mittlerweile regelrecht zur Einordnung des Übergewichts herangezogen wird – und der ursprünglich gar nicht dafür gedacht war. Die Formel – der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m²) – wurde 1832 von dem belgischen Wissenschaftler Adolphe Quetelet definiert. Damals hieß sie entsprechend "Quetelet-Index".
Er war Teil eines Projektes, mit dem Quetelet die Eigenschaften eines Durchschnittsmenschen definieren wollte. Dabei ging es unter anderem um das Gewicht eines normalen Menschen. Aber längst noch nicht um die Definition eines möglichen Übergewichts.
Damit befasste man sich erst 140 Jahre später. Der US-Forscher Ancel Keys machte sich damals auf die Suche nach einem geeigneten Index für das Übergewicht – und fand heraus, dass sich das Körpergewicht verschiedener Menschen mit dem Quetelet Index am zuverlässigsten vergleichen und einordnen lässt. Aus dem Quetelet-Index wurde dann der Body-Mass-Index.
Und der wurde nach der Veröffentlichung von Key's Untersuchungen im US-amerikanischen "Journal of Chronic Diseases" in Fachkreisen schnell beliebt. Bald darauf begannen auch das US-amerikanische National Institute of Health (NIH) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Übergewicht anhand des BMIs einzuordnen.
Index mit Schwächen
So hatte sich das Keys aber eigentlich nicht vorgestellt. Der BMI mochte zwar immer noch die gelungenste Wahl zwischen all den anderen Gewichtsformeln sein. Aber als individueller Risikowert war er seiner Meinung nach nicht geeignet. Denn andere wichtige Faktoren, wie Alter und Geschlecht, würden beim BMI nicht berücksichtigt, so Keys.
Tatsächlich hat der BMI aber noch weitere Schwächen. Ein großer Minuspunkt: Er misst nicht die Masse an Fettgewebe, sondern nur das Gesamtgewicht. "Zwei Menschen mit demselben BMI-Wert können eine ganz unterschiedliche Fettmasse und vor allem Fettverteilung haben. Denn der BMI unterscheidet nicht zwischen Fett- und Muskelmasse", sagt Christina Holzapfel, Ernährungswissenschaftlerin an der Technischen Universität München und wissenschaftliche Geschäftsführerin des Kompetenznetzes Adipositas.
So können Hochleistungssportler paradoxerweise nach BMI-Definition übergewichtig sein: Die schwere Muskelmasse sorgt bei ihnen für ein hohes Gesamtgewicht, das leicht einen BMI über 25 zur Folge hat – selbst wenn das eigentliche Übel, nämlich die Fettmasse, gering ist.
Äpfel und Birnen
Warum hielt und hält man also immer noch an diesem Index fest? Die Antwort ist einfach: Es gibt schlichtweg nichts Besseres. "Für den Alltagsgebrauch ist der BMI immer noch die beste Methode. Er ist schnell und einfach zu bestimmen und erlaubt eine Einordnung des Körpergewichts nach WHO-Kriterien", so Holzapfel. Der BMI muss allerdings nicht die einzige Methode bleiben. Denn in letzter Zeit empfehlen Experten, nicht nur den BMI, sondern noch einen anderen Wert zu bestimmen: den Bauchumfang.
Denn Fett ist nicht gleich Fett. Bauchfett – oder vielmehr das viszerale Fett, das sich an den Organen festsetzt – ist aktuellen Untersuchungen zufolge wesentlich schädlicher als Fettansammlungen an anderen Orten den Körpers. Studien konnten zeigen, dass viel Fett im Bauchbereich (Verteilungstyp "Apfel"), das Risiko für Folgeerkrankungen stark erhöht. Das heißt: Jemand mit dieser Fettverteilung bekommt besonders oft Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen und Schlaganfälle.
Wer dagegen Fett vor allem im Bereich von Oberschenkel und Hüfte einlagert (Typ "Birne"), hat ein geringeres Risiko für diese Erkrankungen. Genau deswegen lohnt es sich einmal nachzumessen, wo sich die überschüssigen Kilos beim Übergewichtigen überhaupt festgesetzt haben. "Die zusätzliche Erhebung des Taillenumfangs erhöht die Aussagekraft des BMIs", sagt Müller.
Ein Taillenumfang unter 80 Zentimetern bei der Frau beziehungsweise unter 94 Zentimetern beim Mann gilt als normal. Ab 88 Zentimeter beziehungsweise 102 Zentimeter Bauchumfang steigt das Risiko für gesundheitliche Komplikationen besonders deutlich an.
Kombination mit dem BMI
Natürlich hat aber auch der Bauchumfang so seine Schwächen. Denn erstens gibt es noch keine genauen Richtlinien, wie und wo genau dieser denn zu messen sei. Und zweitens misst man damit natürlich nicht nur das gefährliche viszerale Fett, sondern auch das weniger schädliche Fett der Unterhaut.
Zusammen mit dem BMI ergeben sich aber dennoch ein paar gute Hinweise auf das Gesamtrisiko, die ohnehin durch Folgeuntersuchungen beim Hausarzt näher eingegrenzt werden müssen. Bei der Behandlung des Übergewicht bedürfe es einer individualisierten Therapie, die persönliche Risikofaktoren berücksichtigt, so Holzapfel. "Nicht jeder Übergewichtige entwickelt in gleichem Umfang Folgeerkrankungen", sagt die Ernährungsexpertin.
Gesunde Übergewichtige
Doch führt Übergewicht überhaupt zwangsweise auch zu Folgeerkrankungen? Genau das wird zurzeit in der Forscherwelt stark diskutiert. Denn es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass nicht jeder Übergewichtige gleichermaßen dafür gefährdet ist. "Es gibt eine Minderheit von Menschen, die sowohl übergewichtig als auch gesund ist", sagt Wabitsch. Nicht jeder, der unter Adipositas leide, habe auch gleichzeitig eine schwere Stoffwechselstörung, so der Endokrinologe.
Etwa ein Fünftel aller Übergewichtigen hat nach aktuellen Erkenntnissen keine der Veränderungen im Blut, die man sonst bei Übergewicht findet. "Ob diese Untergruppe von Adipösen aber auch dauerhaft gesund bleibt, kann man derzeit noch nicht sagen. Dafür fehlen uns verlässliche Langzeitdaten", sagt Wabitsch.
Verlässliche Daten fehlen ebenso zu der Ursache des geringeren Risikos. Bisher gibt es eine Vielzahl von Theorien, von denen noch keine bestätigt werden konnte. Eine Hypothese besagt beispielsweise, dass das Fettgewebe der gesunden Adipösen eine höhere Plastizität besäße. So eine Art von Fettgewebe würde die übermäßig zugeführte Energie dann effektiver speichern, ohne sich dabei zu entzünden. Denn genau diese Entzündung bei Überlastung des Fettgewebes wird für die weitreichenden Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Schäden verantwortlich gemacht.
So sind es wohl gleich mehrere Dinge, die dafür sorgen, dass Studien zum Übergewicht unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen können. Während die Details noch eine Weile unklar bleiben werden, ist wohl eins gewiss: Starkes Übergewicht erhöht das Krankheitsrisiko massiv – und das lässt sich trotz all ihrer Schwächen bereits heute mit BMI und Bauchumfang bestimmen.