Wer weniger hungert, ist später tot
Nur rank und schlank ist gesund? Dicke leben kürzer? Immer mehr Studien nähren Zweifel an dieser These. Und sie zeigen: Wir können uns einen entspannten Umgang mit den paar Pfunden zu viel gönnen.
Nach Neujahr quälen wir uns wieder besonders mit ihnen herum: den überschüssigen Pfunden. Klar scheint: Die Kilos zu viel müssen weg. Denn sie sind schlecht für die Gesundheit, zudem sterben Dicke früher, wie Ärzte und Abnehm-Kampagnen uns seit Jahren vermitteln. Doch Studien zeigen schon länger: Die Dicken wollen sich einfach nicht an die Vorhersagen halten. Wer leicht mollig ist, lebt sogar länger.
Was Normalgewicht ist und ab wann jemand übergewichtig oder sogar fettleibig ist, legt der sogenannte Body-Mass-Index, kurz BMI, fest. Berechnen lässt er sich aus dem Gewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat. Nach Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelten alle mit einem BMI zwischen 18,5 und 24,9 als normal. Wer darüber liegt, wird als übergewichtig eingestuft. Ab einem BMI von 30 sprechen Mediziner von Fettsucht (Adipositas).
BMI in der Kritik
Doch der BMI steht schon seit einiger Zeit in der Kritik: Fraglich ist, ob er wirklich etwas über die Gefahren für die Gesundheit eines Menschen aussagt und ob mit einem erhöhten BMI tatsächlich eine erhöhte Sterblichkeit einhergeht, wie es die WHO konstatiert.
Denn der Index bringt gleich mehrere Probleme mit sich: So berücksichtigt er etwa nicht die Fettverteilung des Körpers. Dabei ist seit Längerem bekannt, dass Fett am Bauch - und damit die sogenannte Apfelfigur - das Risiko für Herz-Kreislauf- und Zuckererkrankungen erhöht. Auch nicht schön, aber weniger schädlich ist dagegen die Birnenfigur, also ein paar Pfunde zu viel an Oberschenkeln, Armen, Hüfte und Hintern. Ein weiteres gewichtiges Problem: Der BMI unterscheidet nicht zwischen Fett- und Muskelmasse. Auch durchtrainierte Sportler würden daher nach diesen Kriterien schnell in der Kategorie Übergewicht landen - und sollten theoretisch abnehmen.
Kritiker hinterfragen daher schon länger den Maßstab, nach dem Menschen in Unter-, Normal- und Übergewichtige eingeteilt werden. Eine Übersichtsarbeit liefert nun weiter Munition gegen die Diktatur des BMI und des Schlankheitsideals. Gemeinsam mit Kollegen hat Katherine Flegal von der US-Gesundheitsbehörde CDC 97 Studien mit fast drei Millionen Teilnehmern unter die Lupe genommen und den Zusammenhang zwischen BMI und Sterblichkeit untersucht. Die Studie ist die bis jetzt größte zu dem Thema.
Ein paar Pfunde zu viel sind in Ordnung
Die Ergebnisse der Forscher zeigen: Menschen mit leichtem Übergewicht (BMI zwischen 25 und 30) haben gegenüber den Normalgewichtigen sogar eine um sechs Prozent geringere Sterblichkeit. Auch in der ersten Stufe der Fettleibigkeit war sie nicht gestiegen, sondern um fünf Prozent niedriger. Für alle stark Fettleibigen mit einem BMI ab 35 erhöhte sich die Sterblichkeit allerdings deutlich um 29 Prozent. Außer Frage steht daher: Wer extrem dick ist, muss mit negativen gesundheitlichen Folgen rechnen.
Doch wie lässt sich die schützende Funktion des Fettes erklären? Ganz klar ist das noch nicht. Ein Grund könnte sein, dass Übergewichtige möglicherweise bessere medizinische Betreuung erfahren, da sie häufiger einen Arzt aufsuchen, vermuten Flegal und ihr Team. Einige zusätzliche Pfunde könnten auch einen positiven Effekt auf die Herzgesundheit haben und zudem bei einer Erkrankung Energiereserven für den Körper darstellen.
Ganz überraschend sind die Ergebnisse von Flegal und ihrem Team nicht, sie bestätigen frühere Untersuchungen. Bereits 2009 zeigten Gesundheitswissenschaftler der Uni Hamburg in einer Übersichtsarbeit, dass der Zusammenhang zwischen Übergewicht und Krankheits- und Sterberisiko nicht eindeutig ist. Demnach müssen als "übergewichtig" eingestufte Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 zwar mit der Gefahr leben, eher Herzproblemen und Diabetes zu entwickeln. Die Sterblichkeit ist bei ihnen aber nicht erhöht.
Hemmungslos schlemmen? Besser nicht!
Für alle, die sich nun schon im Schlaraffenland wähnen: Die Erlaubnis zum hemmungslosen Schlemmen sind die Ergebnisse auf keinen Fall. "Wir wollen nicht, dass die Leute denken, dass sie auf jegliches Maßhalten verzichten und an Gewicht zulegen können", sagte George Blackburn, Ernährungswissenschaftler an der Harvard Universität der "New York Times". Denn zweifellos wirken sich zu viele Kilos auf den Stoffwechsel aus und lassen etwa das Risiko für Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs steigen. Doch fraglich ist, ab welcher Grenze es für die Gesundheit tatsächlich gefährlich wird - und ob der BMI allein dafür aussagekräftig ist.
Alternativen gibt es schon jetzt: Als besser geeignet gilt etwa die Messung des Hüftumfangs und das Verhältnis von Taille zu Hüfte. Doch wer nun schon Maßband und Taschenrechner zückt und Diätratschläge wälzt, sollte sich erst einmal entspannt zurücklehnen. Denn auf eines deuten alle neueren Studien zu dem Thema hin: Ein paar Rundungen sind durchaus in Ordnung.